Der Diabetische Fuß – Teil 4: Die Klassifikation nach Wagner und Armstrong
Nachdem sich die ersten beiden Teile unserer Serie zum Diabetischen Fußsyndrom intensiv mit den Ursachen des diabetischen Fußes und den entscheidenden Aspekten der Wundversorgung beim Diabetischen Fußsyndrom befasst haben, widmen wir uns heute einem weiteren entscheidenden Aspekt: der Klassifikation.
Die präzise Einordnung von diabetischen Fußulzera ist von fundamentaler Bedeutung für eine effektive Behandlung und die Prävention schwerwiegender Komplikationen. Nach Lektüre dieses Artikels werden Sie ein gutes Verständnis über die üblicherweise in der Praxis genutzte Klassifikation sowie ihren Sinn und Zweck haben.
Die Klassifikationssysteme zur Einordnung des diabetischen Fußes bieten eine standardisierte Sprache für alle im Gesundheitswesen tätigen Fachkräfte. Dies ermöglicht eine konsistente Beurteilung, eine klare Kommunikation zwischen den Disziplinen und den Vergleich von Wundschwere und -progression.
Eine solche gemeinsame Verständigung ist die Grundlage für eine koordinierte, effektive und evidenzbasierte Versorgung in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen und Fachgebieten.
Warum ist ein gemeinsames Verständnis so wichtig? Nun, wenn ein multidisziplinäres Team unterschiedliche Begriffe oder Kriterien verwendet, kann dies zu Missverständnissen führen, die eine optimale Patientenversorgung behindern.
Daher dienen Klassifikationen auch als universelle Sprache, welche die Patientensicherheit und die Konsistenz der Behandlung verbessert.

Für betroffene Personen hilft das Verständnis der Klassifikation, den Schweregrad ihres Zustands und die Begründung der Behandlungspläne besser nachzuvollziehen.
Zwei der bekanntesten und am häufigsten verwendeten Systeme sind die Wagner-Klassifikation und die Armstrong-Klassifikation, die in Deutschland zumeist kombiniert angewandt werden.
Die Wagner-Klassifikation: Ein bewährtes System zur Tiefenbestimmung
Die Wagner-Klassifikation, entwickelt in den 1970er Jahren, war eines der ersten weit verbreiteten Systeme zur Einteilung diabetischer Fußulzera. Ihr primärer Fokus liegt auf der anatomischen Tiefe des Ulkus und dem Ausmaß der Gewebsnekrose oder Gangrän.
Die Klassifikation unterteilt die Läsionen in sechs Grade, die den fortschreitenden Schweregrad des Gewebeschadens widerspiegeln:
Grad | Beschreibung der Ulkustiefe / des Gewebeschadens |
0 | Prä- oder Post-Läsion, intakte Haut |
1 | Oberflächliches Ulkus (Haut und Unterhautgewebe) |
2 | Ulkus reicht bis zu Sehnen oder Kapseln |
3 | Ulkus mit Abszess, Osteomyelitis oder Gelenksepsis, reicht bis Knochen oder Gelenk |
4 | Lokalisierte Gangrän (z.B. Zehen, Vorfuß) |
5 | Ausgedehnte Gangrän des gesamten Fußes |
Die Stärke des Wagner-Systems liegt in seiner Einfachheit und der Konzentration auf die Tiefe, was eine schnelle Anwendung ermöglicht.
Diese Einfachheit birgt jedoch auch Einschränkungen. Das System berücksichtigt nicht alle diabetischen Fußulzera und Infektionen ausreichend. Beispielsweise wird eine Infektion nur indirekt in Grad 3 (Abszess, Osteomyelitis) erfasst, während oberflächliche, aber infizierte Wunden nicht separat klassifiziert werden können.
Auch die vaskuläre Situation, also Durchblutungsstörungen, wird erst in den schwersten Graden 4 und 5 (Gangrän) berücksichtigt und nicht als unabhängiger Risikofaktor.
Subtilere, aber klinisch relevante Anzeichen einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit bleiben sogar gänzlich unberücksichtigt.
Diese fehlende umfassende Berücksichtigung von Infektion und Ischämie, die entscheidende Faktoren für den Heilungsverlauf sind, führt dazu, dass die Wagner-Klassifikation mit der Armstrong-Klassifikation kombiniert wird.
Auch Institutionen wie beispielsweise das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfehlen die Wagner-Klassifikation nicht mehr als alleinige Klassifikation zur Beurteilung diabetischer Fußulzera.
Daran wird einmal mehr deutlich, dass medizinische Klassifikationssysteme nicht statisch sind, sondern sich mit dem Fortschreiten des medizinischen Verständnisses und der Evidenz weiterentwickeln. Was einst als bewährt galt, wird durch umfassendere, prognostisch aussagekräftigere Tools abgelöst oder erweitert, was eine ständige Anpassung der besten Praxismethoden erfordert.
Die Wagner/Armstrong-Klassifikation : Ein umfassenderer Ansatz
Die Wagner-/Armstrong-Klassifikation entstand als Antwort auf die Limitationen einfacherer Systeme. Sie bietet eine wesentlich umfassendere Beurteilung, indem sie die Wundtiefe, das Vorhandensein einer Infektion und einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit in jeder Kategorie des Wundbeurteilung bewertet.
Das System nach Armstrong verwendet einen Matrix-Ansatz, der Wundtiefe (Grade) und die Präsenz von Infektion und/oder Ischämie (Stadien) kombiniert. So wird eine detailliertere und präzisere Einordnung möglich:
Grad / Tiefe | Stadium A (Keine Infektion, keine Ischämie) | Stadium B (Infektion) | Stadium C (Ischämie) | Stadium D (Infektion und Ischämie) |
Grad 0 | Prä- oder postulcerative Läsion (geheilt) | Infizierte prä-/postulcerative Läsion | Ischämische prä-/postulcerative Läsion | Infizierte und ischämische prä-/postulcerativeLäsion |
Grad 1 | Oberflächliches Ulkus | Infiziertes oberflächliches Ulkus | Ischämisches oberflächliches Ulkus | Infiziertes und ischämisches oberflächliches Ulkus |
Grad 2 | Ulkus bis Sehnen/Kapseln | Infiziertes Ulkus bis Sehnen/Kapseln | Ischämisches Ulkus bis Sehnen/Kapseln | Infiziertes und ischämisches Ulkus bis Sehnen/Kapseln |
Grad 3 | Ulkus bis Knochen/Gelenke | Infiziertes Ulkus bis Knochen/Gelenke | Ischämisches Ulkus bis Knochen/Gelenke | Infiziertes und ischämisches Ulkus bis Knochen/Gelenke |
Die Grade (horizontal) beschreiben die Tiefe des Ulkus:
- Grad 0 steht für eine prä- oder postulcerative Läsion
- Grad 1 steht für ein oberflächliches Ulkus
- Grad 2 steht für eine Wunde, die bis zu Sehnen oder Kapseln reicht
- Grad 3 steht für eine Wunde, mit Knochenbeteiligung, Gelenk
- Grad 4 Nekrose von Fußteilen
- Grad 5 Nekrose des gesamten Fußes
Die Stadien (vertikal) klassifizieren die Wunde basierend auf dem Vorhandensein von Infektion und/oder Ischämie:
- Stadium A Risikofuß, Hyperkeratosen vorhanden, keine Läsionen
- Stadium B (infiziert)
- Stadium C (ischämisch)
- Stadium D (infiziert und ischämisch).
Die Stärke des Wagner/Armstrong-Systems liegt in seiner mehrdimensionalen Matrix. Dies ist mehr als nur das Hinzufügen weiterer Datenpunkte; es spiegelt ein ganzheitliches Verständnis der Pathologie des diabetischen Fußulkus wider.
Kurz gesagt: Die Tatsache, dass ein Fußulkus ein komplexes Krankheitsbild ist, das von mehreren Faktoren abhängig beurteilt werden muss, kann mit diesem System berücksichtigt werden.
Ein Beispiel: Eine oberflächliche Wunde (Grad 1) kann weitaus gefährlicher sein, wenn sie infiziert und ischämisch ist (Stadium D), als eine tiefe Wunde (Grad 3), die sauber und nicht-ischämisch ist (Stadium A).
Diese Mehrdimensionalität ermöglicht es Klinikern, Behandlungen zu priorisieren, die direkt die Heilung und den Gliedmaßenerhalt beeinflussen, wie z.B. eine Revaskularisierung (Wiederherstellung oder Verbesserung der Blutversorgung) bei Ischämie oder eine aggressive Antibiotikabehandlung bei Infektion.
Die Wagner/Armstrong-Klassifikation ist also weit mehr als nur ein Werkzeug zur Beschreibung einer Wunde am diabetischen Fuß. Sie ist ein validiertes und prognostisch aussagekräftiges System. Das bedeutet, ihre Wirksamkeit und Zuverlässigkeit wurden wissenschaftlich bestätigt, und sie kann mit hoher Genauigkeit vorhersagen, wie sich eine Wunde wahrscheinlich entwickeln wird.
Der Kern ihrer Aussagekraft liegt in der Beobachtung, dass höhere Grade und Stadien innerhalb der Klassifikation oft mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit der Wundheilung einhergehen – es sei denn, es erfolgen Maßnahmen wie eine Revaskularisierung (die Wiederherstellung der Blutversorgung, z.B. durch gefäßchirurgische Eingriffe) oder, im schlimmsten Fall, eine Amputation.
Diese prädiktive Kraft der Wagner/Armstrong-Klassifikation hat weitreichende Konsequenzen für die moderne Fußbehandlung. Sie ermöglicht eine effizientere Allokation von Ressourcen im Gesundheitssystem.
Konkret heißt das: Wenn eine Wunde in höhere Grade oder Stadien eingestuft wird, wissen wir, dass ein höheres Risiko für eine Amputation besteht und die Heilungszeiten voraussichtlich länger sein werden.
Dieses entscheidende Wissen erlaubt es medizinischem Fachpersonal, frühzeitig und entschlossen zu handeln. Das kann eine sofortige Konsultation eines Gefäßchirurgen bedeuten, um die Durchblutung zu prüfen und gegebenenfalls zu verbessern, oder eine rasche stationäre Behandlung bei einer schweren Infektion.
Solche schnellen und gezielten Interventionen können ungünstigere Verläufe verhindern und langfristig sogar Gesundheitskosten optimieren, da aufwendige und langwierige Folgebehandlungen vermieden werden können.
Im Grunde verschiebt die Wagner/Armstrong-Klassifikation den Fokus von einer reaktiven Behandlung (Handeln erst, wenn ein Problem offensichtlich wird) hin zu einem proaktiven Risikomanagement. Das System wird heutzutage deshalb in spezialisierten diabetischen Fußzentren weltweit angewendet, um die bestmögliche Versorgung für Betroffene zu gewährleisten.
Fazit: Klassifikationen sind ein wichtiger Schlüssel zur effektiven Behandlung des diabetischen Fußsyndroms
Die Klassifikation des diabetischen Fußes ist weit mehr als nur eine medizinische Einordnung – sie ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer erfolgreichen Behandlung und zur Prävention schwerwiegender Komplikationen.
Eine genaue Klassifikation ist von grundlegender Bedeutung für das Management diabetischer Fußulzera. Sie ermöglicht es den Fachkräften, effektiv zu kommunizieren, maßgeschneiderte Behandlungsstrategien zu entwickeln und potenzielle Ergebnisse zu antizipieren.
Die gesamte Diskussion über Klassifikationssysteme, insbesondere die Vorhersagegenauigkeit von Wagner/Armstrong, unterstreicht eine entscheidende Verbindung: Die Klassifikation ist kein Selbstzweck, sondern ein vitales Glied in einer Kette.
Sie verbindet die anfängliche Diagnose mit der Prognose (was wahrscheinlich passieren wird), welche dann direkt die Intensität und Art der erforderlichen Behandlung diktiert.
Ein robustes Klassifikationssystem wie Wagner/Armstrong bietet den notwendigen Rahmen für diesen vernetzten Entscheidungsprozess, der letztendlich auf den Gliedmaßenerhalt und eine verbesserte Lebensqualität der Patienten abzielt.
Für Betroffene kann das Verständnis, wie ihre Wunde klassifiziert wird, Klarheit schaffen und ihnen helfen, aktiv an ihren Behandlungsentscheidungen teilzuhaben. Dieses Wissen kann die Mitarbeit und Motivation erheblich verbessern und eine gemeinsame Entscheidungsfindung fördern.
Regelmäßige Fußkontrollen und die frühzeitige Konsultation von Wundexperten sind dabei sehr wichtig, um das Risiko von Komplikationen zu minimieren und die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten.