Der Diabetische Fuß – Teil 2: Ursachen und warum die Füße von Menschen mit Diabetes besonders gefährdet sind
Das diabetische Fußsyndrom (DFS) oder auch der „diabetische Fuß“ stellt eine der schwerwiegendsten Spätkomplikationen des Diabetes mellitus dar. Es kann zu chronischen Wunden führen und im schlimmsten Fall Amputationen notwendig machen. Die Entstehung dieser komplexen Erkrankung ist multifaktoriell – das bedeutet, dass mehrere Faktoren wie Zahnräder ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Im Zentrum dieses Geschehens steht die dauerhafte Schädigung von Nerven und Blutgefäßen, die vor allem durch chronisch erhöhte Blutzuckerwerte verursacht wird.
Diese metabolische Entgleisung ist die grundlegende Ursache, die die Füße von Menschen mit Diabetes besonders anfällig macht. Das Zusammenspiel von Nervenschädigungen (Neuropathie), Durchblutungsstörungen (periphere arterielle Verschlusskrankheit, pAVK), mechanischer Überlastung und einer erhöhten Infektionsanfälligkeit bildet die Grundlage für die Entwicklung des diabetischen Fußes.
Diabetische Neuropathie: Wenn die Nerven leiden
Die diabetische Neuropathie, eine Schädigung der Nerven, ist die häufigste und oft primäre Ursache des diabetischen Fußsyndroms. Bis zu 90 Prozent der DFS-Patienten sind davon betroffen. Diese Nervenschädigung ist eine direkte Folge der langjährigen Einwirkung hoher Blutzuckerwerte, durch die Nervenfasern geschädigt und zum Absterben gebracht werden, da die notwendige Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen nicht mehr ausreichend gewährleistet ist.
Sensomotorische Neuropathie: Der Verlust der schützenden Sensibilität (Leibesinselschwund)
Die sensiblen Nerven sind dafür verantwortlich, Empfindungen wie Schmerz, Temperatur, Druck und Vibration an das Gehirn weiterzuleiten. Bei einer Schädigung dieser Nerven kommt es zu einem Verlust dieser wichtigen Schutzfunktionen.Das hat zur Folge, dass Betroffene kleine Verletzungen, Druckstellen durch unpassendes Schuhwerk oder sogar Verbrennungen oft nicht bemerken.
Das Fehlen dieser natürlichen Warnsignale ist aber ein Grund dafür, dass sich geringfügige Traumata unbemerkt zu schwerwiegenden Geschwüren entwickeln können, da die notwendige Schonung oder Behandlung ausbleibt.
Neben dem Verlust der Empfindungen können auch sogenannte „Plussymptome“ auftreten. Dazu gehören Kribbeln (Parästhesien), Brennen oder stechende Schmerzen, die sich häufig nachts verstärken und als „burning feet“ bekannt sind. Das paradoxe Phänomen des „painful painless leg“ beschreibt, wie trotz vorhandener Schmerzen die schützende Schmerzwahrnehmung bei akuten Verletzungen fehlt, was die Gefahr unbemerkter Schäden zusätzlich erhöht
Autonome Neuropathie: Auswirkungen auf Haut und Durchblutung
Die autonomen Nerven steuern unwillkürliche Körperfunktionen, zu denen auch die Regulierung der Schweißdrüsen und der lokalen Durchblutung gehören. Eine Schädigung dieser Nerven führt zu einer verminderten Schweißsekretion, wodurch die Haut am Fuß trocken, rissig und anfällig für Einrisse wird. Diese Risse und die vermehrte Bildung von Hornhautschwielen bieten ideale Eintrittspforten für Bakterien und erhöhen somit das Infektionsrisiko erheblich.
Ein weiteres, oft missverstandenes Phänomen der autonomen Neuropathie ist die Öffnung arteriovenöser Shunts. Dadurch kann der Fuß warm und rosig erscheinen und die Fußpulse gut tastbar sein, was fälschlicherweise auf eine gute Durchblutung hindeutet.
Tatsächlich ist hier jedoch die nutritive Durchblutung des Gewebes auf Kapillarebene beeinträchtigt. Dieser scheinbar gut durchblutete, warme Fuß ist paradoxerweise anfällig für Ischämie und Wundheilungsstörungen, da das Gewebe nicht ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird. Diese Diskrepanz zwischen äußerem Erscheinungsbild und tatsächlicher Gewebeperfusion stellt eine besondere diagnostische Herausforderung dar.
Motorische Neuropathie: Muskelungleichgewicht und Fehlstellungen
Auch die motorischen Nerven, die für die Steuerung der Muskulatur zuständig sind, können durch Diabetes geschädigt werden. Dies führt zu einer Atrophie (Schwund) der kleinen Fußbinnenmuskeln und einem Ungleichgewicht der Unterschenkelmuskulatur.
Die Folge sind charakteristische Fußdeformitäten wie Krallenzehen, Hammerzehen oder ein Hallux valgus, die die Druckverteilung am Fuß ungünstig verändern. Diese Fehlstellungen führen zu einer abnormen Belastung bestimmter Fußbereiche und erhöhen das Risiko für die Entstehung von Druckgeschwüren und Stürzen bis hin zu einem Charcot-Fuß.
Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK): Wenn die Durchblutung stockt
Mindestens 50 % der Fälle des diabetischen Fußsyndroms sind mit einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) verbunden, einer Durchblutungsstörung der Beinarterien.
Die pAVK ist eine Manifestation der Arteriosklerose, die bei Menschen mit Diabetes 3- bis 4-fach häufiger auftritt und oft schon in jüngeren Jahren beginnt.

Arteriosklerose bei Diabetes: Die Mechanismen der Gefäßschädigung
Chronisch erhöhte Blutzuckerwerte (Hyperglykämie), erhöhte Blutfettwerte (Dyslipidämie) und eine gestörte Insulinwirkung (Insulinresistenz bzw. Hyperinsulinämie – das bedeutet, der Körper produziert zwar Insulin, aber die Zellen reagieren nicht mehr ausreichend darauf, was zu einem Überschuss an Insulin im Blut führt) – sind die Hauptursachen für die Arterienverkalkung (Arteriosklerose) bei Diabetes.
Diese Faktoren schädigen die innerste Schicht der Blutgefäße (Endothel), lösen Entzündungen aus und fördern die Bildung von Ablagerungen, den sogenannten atherosklerotischen Plaques (das sind Fett- und Kalkablagerungen an den Gefäßwänden, die die Arterien verengen).
Die zugrunde liegenden Mechanismen sind vielfältig: Es kommt zu Effekten, die Entzündungen und Blutgerinnsel fördern (proinflammatorische und prothrombotische Effekte), einer Beeinträchtigung der Fähigkeit der Gefäße, sich selbst zu regulieren (vaskuläre Autoregulation), der Bildung von nervenschädigenden Verbindungen (neurotoxische Verbindungen) und sogenannten Advanced Glycation End Products (AGEs – das sind schädliche Stoffe, die entstehen, wenn Zucker im Blut mit Proteinen oder Fetten reagiert).
Hinzu kommt eine Störung des Stickstoffmonoxid-Stoffwechsels, einem wichtigen Botenstoff, der normalerweise die Gefäße erweitert und so für eine gute Durchblutung sorgt.
Dieses komplexe Zusammenspiel biochemischer Prozesse führt zu einer fortschreitenden Verengung oder einem vollständigen Verschluss der Arterien, insbesondere in den unteren Extremitäten, wodurch die Blutzufuhr kritisch eingeschränkt wird.
Das verdeutlicht, dass Diabetes nicht nur Arteriosklerose verursacht, sondern ein Umfeld schafft, das die Gefäßverkalkung stark begünstigt (ein hochgradig pro-atherogenes Milieu), was die Gefäßgesundheit im gesamten Körper beeinträchtigt.
Folgen der Ischämie: Verzögerte Wundheilung und Gewebeuntergang
Durch die verengten oder verschlossenen Gefäße gelangt weniger sauerstoffreiches und nährstoffreiches Blut in Füße und Zehen. Dieser Mangel an Versorgung, die Ischämie, verzögert die Wundheilung erheblich. Die für die Reparatur notwendigen Zellen und Substanzen können nicht ausreichend zum Wundgebiet transportiert werden, was die Heilungsprozesse massiv behindert.
Im fortgeschrittenen Stadium kann die Ischämie zum Absterben von Gewebe (Nekrosen oder Gangrän) führen, was sich oft zuerst an den Zehen oder der Ferse zeigt.
Eine besondere und gefährliche Konstellation ist das gleichzeitige Vorliegen von Neuropathie und pAVK. Klassische Symptome einer pAVK, wie Wadenschmerzen beim Gehen (die sogenannte „Schaufensterkrankheit“ oder Claudicatio intermittens), können bei gleichzeitig bestehender Neuropathie fehlen.
Das bedeutet, dass das körpereigene Warnsystem für Ischämie – der Schmerz – ausgeschaltet ist. Diese „versteckte Ischämie“ erlaubt es der Erkrankung, unbemerkt und schmerzlos bis zum Stadium schwerer Wunden oder Nekrosen fortzuschreiten, was die Diagnose und die rechtzeitige Intervention erheblich erschwert.
Abnorme Druckbelastung und Fußdeformitäten: Der Fuß unter ständigem Stress
Die mechanische Belastung des Fußes spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Ulzera, insbesondere in Kombination mit einer diabetischen Neuropathie.
Das Zusammenspiel von Nervenschäden, verändertem Gangbild und Schuhwerk
Die motorische Neuropathie und der damit verbundene Muskelschwund führen zu einer Veränderung des Gangbildes und der Biomechanik des Fußes. Dies resultiert in einer ungleichmäßigen Druckverteilung und der Entstehung von Hochdruckzonen an bestimmten Stellen des Fußes.

Ein weiteres Problem ist das Schuhwerk: Patienten mit vermindertem Gefühl neigen oft dazu, engeres Schuhwerk zu tragen, da sie ein stärkeres Feedback beim Laufen suchen. Dies kann jedoch kontraproduktiv sein.
Tatsächlich ist ungeeignetes Schuhwerk in den meisten Fällen die Ursache für diabetische Fußulzera. Selbst kleine Fremdkörper im Schuh, wie ein Steinchen, können aufgrund der fehlenden Sensibilität unbemerkt bleiben und durch dauerndes Reiben über einen längeren Zeitraum tatsächlich schwere Verletzungen verursachen.
Die Entstehung von Druckpunkten, Hornhautschwielen und Ulzera
An den übermäßig belasteten Stellen, die oft am Ballen oder an den Zehen liegen, entstehen durch die repetitive Drucküberlastung zunächst schmerzlose Hornhautschwielen (Hyperkeratosen).
Unter diesen Schwielen können sich Blasen oder subkallöse Blutungen entwickeln. Aufgrund der fehlenden Schmerzempfindung bleiben diese initialen Schäden oft unbemerkt. Diese können sich dann zu tiefen Geschwüren (Ulcera) entwickeln, die eine offene Eintrittspforte für Infektionen darstellen und somit den Weg für weitere Komplikationen ebnen.
Der Charcot-Fuß: Eine besondere Form der Knochenzerstörung
Der Charcot-Fuß, auch diabetische Neuroosteoarthropathie (DNOAP) genannt, ist eine seltene, aber schwerwiegende Komplikation der Neuropathie. Sie führt zu einer progressiven, nicht-infektiösen entzündlichen Zerstörung von Knochen und Gelenken im Fuß.
Diese Erkrankung ist weit mehr als eine einfache Fußdeformität; sie ist eine komplexe neuro-osteoarthropathische Störung.
Die Pathophysiologie des Charcot-Fußes wird durch zwei Theorien erklärt, die sich wahrscheinlich ergänzen: Die neuropathische Theorie besagt, dass die autonome Neuropathie zu einem erhöhten Blutfluss im Fuß führt, was eine erhöhte Knochenresorption und Osteopenie (Knochenschwund) nach sich zieht.
Die neurotraumatische Theorie geht davon aus, dass die fehlende Sensibilität des Fußes dazu führt, dass wiederholte Mikrotraumen und eine fortgesetzte Belastung des bereits geschädigten Fußes unbemerkt bleiben und die Destruktion der Knochen und Gelenke fördern.
Diese Knocheninstabilität und die resultierenden Deformitäten prädisponieren den Fuß extrem für die Entstehung von Ulzera.
Kleine Verletzungen und Infektionen: Der “Funke am Pulverfass”
Der auslösende Moment für ein diabetisches Fußulkus ist häufig eine unscheinbare, alltägliche Verletzung, die bei gesunden Menschen rasch heilen würde.
Häufige Auslöser und das Problem der Unbemerktheit
Enge oder schlecht sitzende Schuhe, Fremdkörper im Schuh, Barfußlaufen, falsches Schneiden der Zehennägel oder unsachgemäßes Entfernen von Hornhaut können zu kleinen Schnittwunden, Blasen oder Hautabschürfungen führen.
Aufgrund der diabetischen Neuropathie bleiben diese Bagatellverletzungen oft unbemerkt und damit auch unbehandelt. Eine unbehandelte, offene Wunde bietet einen idealen Nährboden für Bakterien, was das Risiko einer Infektion exponentiell erhöht.
Die Rolle des geschwächten Immunsystems und der Infektionsanfälligkeit
Bei schlecht eingestelltem Diabetes ist das Immunsystem beeinträchtigt. Hohe Blutzuckerwerte haben eine direkte Auswirkung auf die zelluläre Immunität: Sie verhindern, dass Nährstoffe und Sauerstoff die Immunzellen effizient versorgen, und reduzieren sowohl die Anzahl als auch die Funktionsfähigkeit der Abwehrzellen, die zur Wundheilung ausgesandt werden.
Zusätzlich gedeihen Bakterien im zuckerreichen Milieu des Blutes und Gewebes besonders gut, was die Infektionsgefahr weiter steigert.
Infektionen können sich daher bei Menschen mit Diabetes schneller ausbreiten und auch tieferes Gewebe wie Sehnen, Gelenke oder Knochen betreffen, was die Komplexität und Schwere des diabetischen Fußsyndroms maßgeblich erhöht.

Tabelle: Charakteristika und Symptome des neuropathischen und ischämischen diabetischen Fußes
Um die Unterschiede zwischen den beiden Hauptursachen des diabetischen Fußsyndroms – Neuropathie und pAVK – besser zu veranschaulichen, fasst die folgende Tabelle die typischen Merkmale und Symptome zusammen. Es ist wichtig zu beachten, dass in vielen Fällen eine Kombination beider Formen vorliegt (neuro-ischämischer Fuß).
Merkmal | Neuropathischer Fuß | Ischämischer Fuß |
Haut | Rosig, warm, aber trocken und rissig, verminderte Schweißsekretion, vermehrte Hornhautbildung | Blass oder bläulich-livide verfärbt, kühl, dünn, glänzend, haarlose Unterschenkel |
Wahrnehmung | Verminderte oder fehlende Empfindlichkeit für Schmerz, Temperatur, Druck, Vibration („Loss of Protective Sensation“, LOPS) | Keine Einschränkungen der Wahrnehmung, Schmerzen können ausgeprägt sein (es sei denn, Neuropathie liegt ebenfalls vor) |
Schmerzen | Verringerte Schmerzempfindlichkeit, daher kaum Schmerzen bei Verletzungen; eventuell Missempfindungen wie Kribbeln oder Brennen (Plussymptome) | Krampfartige Schmerzen, besonders beim Gehen („Schaufensterkrankheit“); Ruheschmerzen bei fortgeschrittener Ischämie |
Fußpulse | Gut tastbar, oft sogar verstärkt (aufgrund arteriovenöser Shunts) | Schlecht tastbar bis gänzlich fehlend |
Deformitäten | Häufig Fehlstellungen wie Krallenzehen, Hammerzehen, Hallux valgus, Charcot-Fuß | Fuß ist in der Regel nicht deformiert |
Wunden | Typischerweise an Druckpunkten (Ballen, Zehenkuppen), oft mit Hornhaut umgeben, meist schmerzlos | Typischerweise an Zehenspitzen, Ferse oder Fußrändern, oft schmerzhaft, Gewebeuntergang (Nekrose) möglich |
Fazit: Das Netzwerk der Risikofaktoren verstehen
Das diabetische Fußsyndrom entsteht nicht „einfach so“, sondern ist das komplexe Resultat eines Zusammenspiels verschiedener Risikofaktoren, die sich gegenseitig verstärken. Die diabetische Neuropathie nimmt dem Fuß seine schützende Sensibilität und führt zu Fehlstellungen, während die periphere arterielle Verschlusskrankheit die notwendige Blutversorgung für die Heilung einschränkt.
Beide Hauptursachen werden durch chronisch erhöhte Blutzuckerwerte angetrieben, die auf vielfältige Weise Nerven und Gefäße schädigen und das Immunsystem beeinträchtigen.
Kleine, oft unbemerkte Verletzungen in Kombination mit einem geschwächten Immunsystem sind dann häufig der letzte Auslöser für die Entstehung chronischer Wunden.
Ein tiefes Verständnis dieser Ursachen und ihrer Pathophysiologie ist der erste und wichtigste Schritt, um das Risiko für die Entwicklung eines diabetischen Fußsyndroms zu minimieren und die Fußgesundheit von Menschen mit Diabetes zu erhalten.